Viele Worte und viel Wut

 Autor und PEN-Präsident der Ukraine Andrej Kurkow

© Georges Seguin / Okki / CC BY-SA 3.0/ Wikimedia Commons

"Ich habe aufgehört, Prosa zu schreiben", sagt der Autor und PEN-Präsident der Ukraine, Andrej Kurkow. Stattdessen verfasst er Artikel und Essays zur aktuellen Situation in seiner Heimat.

Ukrainischer Autor zum Krieg
Viele Worte und viel Wut
"Ich versuche zu erzählen, was gerade in unserem Land passiert", sagt der Autor und PEN-Präsident der Ukraine, Andrej Kurkow. Im Interview spricht er über die Lage der Schriftsteller:innen und die Boykott-Forderung gegen russische Verlage und Literaten. Auch bei der Leipziger Buchmesse ist die Ukraine ein Programmschwerpunkt.

Herr Kurkow, wie geht es Ihnen gerade?

Andrej Kurkow: Der erste Schock über den Beginn des Krieges ist für mich schon vorüber. Ich verstehe jetzt, dass es das alte Leben nicht länger geben wird. Und ein neues Nachkriegs-Leben gibt es noch nicht. Wir wissen nicht, wann es kommen wird. Zusammen mit meiner Familie wurde ich zum Flüchtling, wie Millionen anderer Ukrainer. Ich befinde mich in der Westukraine, wo auch russische ballistische Raketen hinkommen, aber viel seltener. Hier ist es sicherer, aber die Sirene ertönt jede Nacht mehrmals.

Wie gehen Sie als Schriftsteller mit dem Krieg um? Schreiben Sie noch?

Kurkow: Ich habe aufgehört, Prosa zu schreiben und schreibe nur Artikel und Essays über die aktuelle Situation in der Ukraine, über die russische Aggression, über Mut und Fatalismus, über Flüchtlinge und Freiwillige. Ich versuche, der Welt so viel wie möglich über die Ukraine und darüber zu erzählen, was gerade in unserem Land passiert.

Haben Sie als Präsident des ukrainischen PEN mit anderen Autoren und mit Verlagen Kontakt? Was tun die im Moment?

Kurkow: Der PEN Ukraine arbeitet - wie während der Pandemie - hauptsächlich online. Wir haben mehrere Dialoge über den Krieg mit Kollegen aus den USA und Großbritannien organisiert. Zudem haben wir begonnen, Geld für die ukrainischen Schriftsteller zu sammeln, die sich jetzt in einer schwierigen Situation befinden. Wir haben dazu ein Konto bei einer polnischen Bank eröffnet.

"Ich habe viele Wörter, schreibe mehrere Texte am Tag"

Am schlimmsten sind unsere Kollegen in den besetzten und umkämpften Städten betroffen. Seit einigen Tagen erhalten wir keine Nachrichten mehr von einem Kollegen aus Melitopol, das von russischen Truppen erobert wurde. Eines unserer ältesten Mitglieder, der Journalist Mykola Semena (71), ist jetzt in Polen. Ein weiteres PEN-Mitglied, der aus Donezk geflohene Schriftsteller Wladimir Rafeew, versteckt sich im Keller eines Hauses im Dorf Klawdijewo bei Kiew, wo zurzeit gekämpft wird. Wir haben vereinbart, dass er von dort nach Kiew gebracht wird, aber während der Kämpfe können die Autos nicht dorthin fahren. Wir versuchen, mit allen in Kontakt zu bleiben.

Die in Wien lebende ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk hat neulich gesagt, sie sei keine Schriftstellerin mehr, denn der Krieg richte die Worte zugrunde. Können Sie das nachvollziehen?

Kurkow: Mir geht es genau umgekehrt. Ich kann keine Prosa schreiben, aber ich habe viele Wörter. Sowohl Worte als auch Wut. Und ich schreibe mehrere Texte am Tag. Ich denke, wenn der Krieg vorbei ist, werde ich alles, was ich während des Krieges geschrieben habe, in einem Buch veröffentlichen.

Die Forderung des PEN Ukraine nach einem Boykott russischer Literatur ist im Westen auf Kritik gestoßen. Halten Sie es für gerechtfertigt, dass die deutschen Verlage russische Autoren und Autorinnen boykottieren, die ihrerseits gegen das System Putin kämpfen und den Krieg verurteilen?

Kurkow: Wir werden dafür kritisiert, dass wir uns für den Boykott der gesamten russischen Kultur einsetzen, bis der Krieg vorbei ist. Auch wird uns unterstellt, dass wir Hass-Rede verbreiten. Internationale Organisationen wie der Salon du Livre de Paris schlagen vor, dass wir mit Vertretern der russischen Kultur und Literatur über den Krieg und die Ukraine sprechen. Doch hat es Aussöhnungsgespräche zwischen sowjetischen und deutschen Schriftstellern während des Zweiten Weltkriegs gegeben? Ich habe keine solchen Informationen gefunden. Solange der Krieg andauert, wird es solche Gespräche zwischen ukrainischen und russischen Schriftstellern nicht geben.
Wir wissen, dass nicht alle russischen Schriftsteller die Aggression Putins unterstützen. Daher schlage ich eine "Weiße Liste" mit Namen russischer Kulturschaffender vor, die sich nicht gescheut haben, die Stimme gegen Putin und den Krieg in der Ukraine zu erheben. Unterstützen wir diejenigen, die uns unterstützen!

"Endlich begreifen, was der Unterschied zwischen Russland und der Ukraine ist"

Und noch ein Satz zu Tolstoi, Puschkin und Dostojewski: Niemand verbrennt ihre Bücher in der Ukraine. In der Ukraine werden Bücher überhaupt nicht verbrannt. Stattdessen verbrennt und bombardiert die russische Armee ukrainische Museen, Kirchen und Gedenkstätten. Darunter auch Babyn Yar, wo die Nazis 1941 33.000 Juden erschossen, und das Slowo-Gebäude in Charkiw, ein Denkmal für ukrainische Schriftsteller der 1920er und -30er Jahre, die fast alle von der stalinistischen Geheimpolizei hingerichtet wurden.

Was können deutschsprachige Verlage und die deutsche Literaturszene zur Unterstützung der Ukraine tun?

Kurkow: Die Ukraine braucht Unterstützung und Hilfe. Von deutschen Verlegern und Lesern würde ich mehr Interesse an ukrainischer Literatur und an ukrainischen Sachbüchern erwarten. Es ist sehr wichtig, dass so viele Bücher wie möglich über die Ukraine erscheinen, damit deutsche Leser die ukrainische Geschichte verstehen lernen und endlich begreifen, was der Unterschied zwischen Russland und der Ukraine, zwischen Russen und Ukrainern ist.

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Eine Auswahl von Werken ukrainischer Autorinnen und Autoren, die ins Deutsche übersetzt wurden:
•    Andrej Kurkow: Graue Bienen. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2019:
Der Bienenzüchter Sergej lebt im Donbass, wo ukrainische Kämpfer und prorussische Separatisten Tag für Tag aufeinander schießen. Sergej will sich raushalten, im Frühling bricht er auf, um seine Bienen in eine friedlichere Gegend zu bringen. Der wohlorganisierte Bienenstaat wird zum Gegenmodell eines im Chaos versinkenden Landes. Eindringlicher, sanfter und lyrischer Stil.
•    Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019: Eine junge Frau im Exil sucht Halt, indem sie die Biografie des 1931 gestorbenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyi recherchiert. In seiner Vergangenheit sucht sie nach Spuren, um besser mit ihrer eigenen Gegenwart zurecht zu kommen. In dem melancholischen und zugleich humorvollen Roman sind die Themen Entwurzelung und ukrainischer Unabhängigkeitskampf miteinander verflochten.
•    Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Roman. Suhrkamp, Berlin 2015:
Leidenschaftlich und poetisch erzählt Katja Petrowskaja die Geschichte ihrer eigenen jüdischen Familie über mehrere Generationen hinweg bis zum Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden von Kiew. Sie holt die Opfer, die namenlosen Toten, aus der Anonymität. Esther, von der nicht einmal sicher ist, dass sie so hieß, ähnelt der Urgroßmutter der Autorin.
•    Serhij Zhadan: Internat. Roman. Suhrkamp, Berlin 2018: Eine Odyssee zwischen zwei Fronten im Donbass: Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt rausholen, das unter Beschuss geraten ist. Packend und düster schildert Zhadan, wie sich eine vertraute Umgebung in ein unheimliches apokalyptisches Territorium verwandelt. Er erzählt aber auch von Menschen, die Angst und Zerstörung Selbstbehauptungswillen und Verantwortung entgegensetzen.

Die Ukraine ist auch Thema bei der virtuellen Leipziger Buchmesse.